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Politischer Liberalismus und Radikalismus
in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

Die Bewegung des politischen Liberalismus in der Schweiz entstand in den 1820er Jahren als Reaktion auf die Herrschaft der konservativen Patrizierfamilien. Träger der liberalen Opposition waren Industrielle und Juristen – das aufstrebende Bürgertum.
Die Radikalen wiederum formierten sich als Oppositionsbewegung gegen diese Liberalen im klassischen Sinn, die jegliche Einmischung des Staates in die Wirtschaft ablehnten («Nachtwächterstaat»). Sie forderten einen Staat, der den wirtschaftlichen Wohlstand und die soziale Wohlfahrt für alle nach Möglichkeit förderte.


Charles Neuhaus

1813 ging die Herrschaft Napoleons in Europa zu Ende: Bei der Völkerschlacht in Leipzig unterlag er den verbündeten europäischen Fürstenhäusern, anschliessend wurde er nach Elba verbannt. Am Wiener Kongress 1814/15 befinden die europäischen Mächte über die Neukonstitution Europas – Bern durfte die ehemaligen Unterangebiete Waadt und Aargau nicht mehr an sich ziehen; als Kompensation erhielt es Biel und den Jura.

Das Ende der Ära Napoleons war zugleich das Ende der fortschrittlichen und aufklärerischen Phase in der Eidgenossenschaft nach 1798: Vorrevolutionäre Zustände wurden wieder hergestellt. In Stadt und Kanton Bern kamen wieder die Patrizier an die Macht; es war die Zeit der Reaktion.
Es war eine Zeit, die von Widersprüchen geprägt war: Einerseits wurden auf der politischen Ebene die alten, vorrevolutionären Zustände wieder hergestellt – andererseits wollte die alte neue Elite die sich anbahnenden Veränderungen auf der wirtschaftlichen Ebene (fortschreitende Industrialisierung, Aufhebung der Zünfte) nicht behindern oder gar aufhalten.

Vor diesem Hintergrund begann sich in den 1820er Jahren eine liberale Opposition zur bestehenden, reaktionären Patrizieroligarchie zu formieren. Träger dieser Opposition waren vorzugsweise Industrielle und Juristen; meist kamen sie aus den Landstätten Burgdorf, Biel, Thun und Porrentruy. Diese Industriellen bildeten wirtschaftlich und bildungsbezogen eine Oberschicht – doch der Zugang zu bezahlten Staatsämtern blieb ihnen verwehrt; diese waren den Patrizierfamilien vorenthalten.

Der Staat, der den Liberalen vorschwebte, war weniger dem Grundbesitz als dem Handel und der Industrie verpflichtet. Ein Vertreter dieser oppositionellen Bewegung war Eduard Blösch (1807-1866). Auch sein Bruder Cäsar Adolf Blösch (1804-1863) war in dieser Aufbruchsbewegung tätig; mit Charles Neuhaus und Emanuel Schwab diskutierten sie die Ideen des politischen Liberalismus. Als Eduard Blösch in die Burgdorfer Schnell-Familie einheiratete, war die Querverbindung des revolutionären Zirkels von Burgdorf nach Biel perfekt.


Eduard Bloesch

1831 erfolgte in Bern der liberale Umsturz. Die patrizische Berner Regierung musste zurücktreten. Der Grosse Rat setzte einen Verfassungsrat ein: Charles Neuhaus war in diesem vertreten.
Erklärtes Ziel der Liberalen war es, die Existenzbedingungen für Gewerbe und Handel zu verbessern. In ihren Augen war es nicht Aufgabe des Staates, direkt wirtschaftlich tätig zu werden oder wirtschaftsfördernde Massnahmen zu treffen. Aber die Liberalen wollten doch gewisse Grundlagen für die gedeihliche Entwicklung des Staates schaffen. Sie konzentrierten sich auf zwei Bereiche: Die Schaffung eines umfassenden Bildungswesens und den Strassenbau.

Die wirtschaftlichen Veränderungen dieser Zeit brachten auch eine grosse Zahl von Armen hervor – Arbeitsbeschaffungsmassnahmen wären dringend nötig gewesen. Aber die Ultra-Liberalen lehnten jeden Eingriff des Staates in die Wirtschaft ab («Laissez-faire-Kapitalismus», «Nachtwächterstaat»). Genau an diesem Punkt setzte die Kritik der Radikalen ein: Sie wollten einen Staat, der den wirtschaftlichen Wohlstand und die soziale Wohlfahrt für alle nach Möglichkeit förderte. Sie verstanden Republikanismus in einem radikaleren und umfassenderen Sinn als die Liberalen.
Träger dieser Bewegung bildeten vor allem zu Beginn politische Flüchtlinge aus Deutschland; als Kämpfer für die deutsche liberale Revolution (Bewegung des Vormärz) in Leib und Leben bedroht, verliessen sie ihr Heimatland Richtung Schweiz. Ein bekanntes Beispiel ist hier Ernst Schüler. Generell waren zu dieser Zeit viele politische Flüchtlinge aus den angrenzenden absolutistischen Monarchien zu Gast.
Auch an den Universitäten lehrten Radikale: So der Professor Wilhelm Snell an der Universität Bern. Sein Student Jakob Stämpfli trug dessen Ideen aufs Land hinaus. Stämpfli war politisch sehr engagiert. Er kämpfte nicht nur gegen die Konservativen, sondern auch gegen die Liberalen; insbesondere gegen deren mächtigsten Vertreter: Charles Neuhaus.


Jakob Stämpfli

1845 entschliessen sich junge, radikale Heisssporne unter der Führung von Ulrich Ochsenbein zum Kampf gegen das katholisch-konservative Luzern – obwohl dieser Freischarenzug abgewehrt werden konnte, stieg Ochsenbeins und Stämpflis Ansehen zunehmend.
Die wichtigsten radikalen Vereine dieser Zeit bildeten die deutschen Arbeitervereine und der Grütliverein. Sie müssen eher als Debattierklubs denn als politische Parteien betrachtet werden. Während die deutschen Arbeitervereine den revolutionären Weg zur demokratischen Ausgestaltung der Republik propagierten, setzte der Grütliverein auf einen reformistischen Weg.
Jakob Stämpfli gründete 1844/45 den «Volksverein», in dem sich die Radikalen politisch formierten und zusammenschlossen. Diese gewannen bald an Bedeutung und verdrängten die alten Liberalen aus den Ämtern. 1846 erzwangen die Liberalen eine kantonale Verfassungsreform.

Quelle: Kästli, Tobias: Die Vergangenheit der Zukunftsstadt. Arbeiterbewegung, Fortschritt und Krisen in Biel, 1815-1919. Bern 1989. S. 28-41.