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Der Ärger des deutschen Gesandten

Am 10. Mai 1940 begann Hitlers Frankreichfeldzug. Bereits Mitte Juni war der Triumph des "Dritten Reiches" offensichtlich. Nachdem französische und polnische Soldaten zu zehntausenden an die Schweizer Grenze gedrängt worden waren, bewilligte der Bundesrat ihre Internierung. Am 18. Juni begann der Grenzübertritt von über 60 000 alliierten Soldaten. Vielerorts wurden die Internierten mit dem Zuruf "Vivent les Français - à bas les Boches!" willkommen geheissen. Der deutsche Gesandte, der an diesem Tag nach Biel reiste, reagierte sehr ungehalten.



Am 10 Mai 1940 begann das "Dritte Reich" den Westfeldzug, um Frankreich so rasch wie möglich niederzuwerfen und sich so die ganze Macht auf dem Kontinent  zu sichern. Schon ab dem 19. Mai 1940, also nur wenige Tage nach Beginn des Angriffs,  zeichnete sich ein für die westlichen Demokratien katastrophaler Ausgang der militärischen Auseinandersetzungen ab. Mit der Operation "Sichelschnitt" trennte die Wehrmacht die britischen Truppen von den französischen Streitkräften und stiess überaus rasch gegen Süden vor. Am 17. Juni erreichten die ersten deutschen Panzer bei Les Verrières die Schweizer Grenze. Dabei gelang es der Wehrmacht, das 45. französische Armeekorps unter General Daille einzuschliessen. Einen Tag später informierte der General den Bundesrat, grössere Truppenteile der französischen Armee hätten bei ihm ein Gesuch um Internierung in der Schweiz eingereicht. Dem Gesuch sei aus humanitären Gründen stattzugeben.

Unter gewissen Vorbehalten gab der Bundesrat grünes Licht, obwohl sich ein baldiger Waffenstillstand abzeichnete. Ein mögliches Motiv für diesen Entscheid: Das 45. Armeekorps umfasste unter anderem die 2. polnische Schützendivision, die sich keinesfalls in deutsche Kriegsgefangenschaft begeben wollte. Zudem wäre dieses Armeekorps der Schweiz bei einem deutschen Angriff im Mai 1940 zu Hilfe geeilt.

Der Grenzübertritt begann noch im Verlauf des 18. Juni. Fast alle Flüchtenden erhielten Einlass - mit einer bitteren Ausnahme: Etwa 1500 Exilierten aus dem republikanischen Spanien wurde der Grenzübertritt verweigert. Die Ankunft der 50'000 französischen und 12'000 polnischen Soldaten überforderte offenbar die mit der Internierung beauftragten Schweizer Einheiten - die Entwaffnung erfolgte nicht ganz lückenlos, und manche Internierte kamen zu Zivilkleidern, mit denen sie der Kontrolle entgehen konnten.
Die zu internierenden Soldaten wurden von der Schweizer Bevölkerung wie Helden gefeiert. Wo sie auch erschienen, ertönten Rufe wie "Vivent les Français - à bas les Boches!"

Dem deutschen Gesandten Köcher, der am 20. Juni nach Biel reiste, blieb die klare Parteinahme der Bevölkerung nicht verborgen. Noch am selben Tag begab er sich zu Bundesrat Pilet-Golaz, der ihn zu einer Besprechung im Zusammenhang mit den Fliegerzwischenfällen eingeladen hatte. Im Rahmen dieses Gesprächs schilderte Köcher seine Eindrücke während der Fahrt nach Biel "sehr lebhaft" und bemerkte, die mangelhafte Internierung werde in Deutschland zweifellos einen sehr schlechten Eindruck machen. Wörtlich notierte Köcher: "Ich führte Pilet-Golaz hierbei wieder einmal aus, wieviel gesündigt worden sei, und wie ich immer davor gewarnt hätte, die Hetze nicht auf die Spitze zu treiben... Jetzt seien wir halt soweit, und es wäre sehr schwer, nun von der deutschen Presse eine freundlichere Haltung gegenüber der Schweiz zu verlangen."

Auch General Guisan bezog sich auf die Sympathie, mit der die Înternierten von der Bevölkerung begrüsst worden waren, als er bei EMD-Vorsteher Rudolf Minger am 21. Juni die Einführung der Vorzensur beantragte.

Am 22. Juni kapitulierte Frankreich. Der Anpassungsdruck gegenüber dem "Dritten Reich" wurde noch grösser. Drei Tage später sollte Bundespräsident Pilet-Golaz eine höchst umstrittene Rede halten, die von vielen als Aufforderung interpretiert wurde, sich der "neuen Ordnung" anzupassen.