Historisches Archiv der Region Biel, Seeland und Berner Jura

Die Juraföderation

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Die ersten Organisationen der Arbeiterschaft

Die 1864 in London gegründete "Internationale Arbeiter-Assoziation" (IAA) fasste bald auch in der Schweiz Fuss. Anfänglich waren alle IAA-Ortsgruppen der Französischen Schweiz in der "Fédération Romande" organisiert. Viele Ortsgruppen im Jura waren in den 1860er-Jahren  vom Armenarzt  Pierre Coullery gegründet worden, einem sozialreformerisch orientierten Politiker.

Die Radikalisierung der Uhrenarbeiter im Jura

Innert weniger Jahre kam es unter den Aktivisten der Arbeiterbewegung im Jura zu einem Radikalisierungsprozess - viele Uhrenarbeiter kamen zur Überzeugung, dass erst ein totaler Bruch mit dem bestehenden System eine bessere Gesellschaft hervorbringen werde. Die Bodenschätze und der Boden sollten kollektives Eigentum von  untereinander frei verbundenen Produzenten werden. Der Weg zu dieser radikalen Umgestaltung der Gesellschaft sollte jedoch nicht über den wachsenden Einfluss auf die Staatsmacht  führen, sondern über die soziale Revolution.
Der Gesinnungswandel unter den organisierten Uhrenarbeitern hatte mehrere Ursachen. Da war die Erfahrung, dass jede grössere Wirtschaftkrise den weltweiten Absatz von Uhren einbrechen liess - in den Uhrmacherdörfern des Jura führte dies immer wieder zu Arbeitslosigkeit und Verarmung. Ein wichtiger Faktor war aber die Internationale selbst. An den Kongressen und Veranstaltungen der IAA kamen die Aktivisten der IAA mit revolutionärem Gedankengut in Berührung, zum Beispiel mit den Ideen Michail Bakunins.

Die Gründung der Juraföderation als Protest gegen den Autoritarismus

Der zweite Kongress der "Fédération Romande"  in La Chaux-de-Fonds vom 4. April 1870 führte sehr bald zu einem Eklat: Nachdem die reformistischen und etatistischen Kräfte die Aufnahme einer kollektivistisch denkenden Föderation verweigert hatten, verliessen die Vertreter der jurassischen Sektionen den Saal und setzten ihre Verhandlungen in einem anderen Lokal fort.

Schon vor dem Kongress hatte Karl Marx geschrieben:  "Der Konflikt von La Chaux-de-Fonds wird eine riesige allgemeine Bedeutung haben. Er wird der Vorläufer der Auseinandersetzung sein, die wir am nächsten Kongress der IAA werden führen müssen."  Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang organisierte der IAA-Generalrat im September 1871 eine Konferenz in London, bei der die Zentralisierung der Internationale beschlossen wurde. Die jurassischen Sektionen, die nicht eingeladen worden waren, reagierten bald:
Am 12. November 1871 trafen sie sich im "Hôtel de la Balance" in Sonvilier und gründeten die Juraföderation als neue Sektion der IAA.  Die neue Föderation gab sich von Anfang an eine lockere Struktur. Noch an der Gründungsversammlung führte sie den Konflikt mit dem von Karl Marx geprägten  Generalrat weiter.

Im "Zirkular von Sonvilier", das sich an alle übrigen Sektionen der Internationale richtete, kritisierte die Juraföderation das Vorgehen des IAA-Generalrates. Ausserdem forderte sie, die Organisationsstrukturen der Internationale müssten bereits die entscheidenden Merkmale der angestrebten Gesellschaftsordnung aufweisen - zum Beispiel Vorkehrungen gegen die Konzentration politischer Macht.

Die Spaltung der Ersten Internationale

Der Konflikt eskalierte. Am Haager Kongress der IAA (1872) sorgte Marx für eine Mehrheit unter den Delegierten. Diese definierten "die Eroberung der politischen Macht" als Hauptaufgabe des Proletariats, bevor sie Bakunin für schuldig befanden, eine Geheimorganisation innnerhalb der Internationale gegründet zu haben. Anschliessend wurde Bakunin aus der IAA ausgeschlossen, ebenso James Guillaume, dem  man vorwarf, der Geheimorganisation anzugehören.  
Noch während des Haager Kongresses zeigte sich, dass die Ausgeschlossenen mit der Sympathie vieler Delegierter aus romanischsprachigen Ländern rechnen konnten. Diese zögerten nicht lange, daraus die Konsequenzen  zu ziehen - sie luden die Gegner des Generalrats ein, auf ihrem Rückweg einen Zwischenhalt im Südjura einzulegen.
Am Kongress von St.-Imier ( 15.-16. September 1872) gründeten Delegierte aus Italien, Spanien, Frankreich, den USA und der Schweiz die Antiautoritäre Internationale. Diese betrachtete sich als legitime Vertreterin der "Internationalen Arbeiter-Assoziation".

Die weitere Entwicklung der Juraföderation

Nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei der weiteren Entwicklung der Antiautoritären Internationale spielte die Juraföderation eine entscheidende Rolle. Ihre Vertreter prägten viele der damals auf internationaler Ebene geführten Diskussionen. Nach Bakunins Rückzug von der aktiven Politik (1872) wirkten vor allem James Guillaume und Adhémar Schwitzguébel für die Verbreitung der Ideen des libertären Sozialismus. Wichtig waren aber auch Persönlichkeiten aus anderen Ländern, zum Beispiel ehemalige Mitglieder der Pariser Kommune wie Jean Louis Pindy oder Wissenschaftler wie Piotr Kropotkin.

Trotz ihres beachtlichen internationalen Einflusses blieb die Juraföderation eine relativ kleine Organisation. Selbst in ausgesprochen guten Jahren wie 1873 und 1874 zählte sie nicht mehr als 300 bis 400 Aktivisten, die in etwa zwanzig Sektionen wirkten. Die meisten waren gut qualifizierte Uhrenarbeiter, zum Beispiel Graveure, Guillocheure, Schalen- und Federmacher.

Die Juraföderation und die Wirtschaftskrise

Die Uhrenbranche reagierte stets sehr sensibel auf Konjunkturschwankungen. Auch die ab dem Jahr 1873 einsetzende internationale Wirtschaftskrise machte sich bald im Jura bemerkbar. Die Juraföderation unternahm viel, um die bisherigen Löhne, Arbeitsbedingungen und  die Kaufkraft der Arbeiterschaft zu verteidigen. So finanzierte sie 1875 eine Produktionskooperative streikender Schalenmacher in St. Imier, gleichzeitig beschloss sie die Eröffnung eines zweiten Ladens der Konsumgenossenschaft am selben Ort. Vor allem aber bemühte sich die Juraföderation um die Organisation und die politische Bildung der Uhrenarbeiter. Adhémar Schwitzguébel zum Beispiel gelang es, die grosse Mehrheit der Graveure und Guillocheure des St.Immertals zu organisieren.

Bald zeichnete sich jedoch ab, dass die Uhrenbranche nicht nur unter einer konjunkturellen, sondern auch unter einer strukturellen Krise litt: In den USA hatte die industrielle Uhrenproduktion - unter anderem dank Entwicklungen des aus Biel stammenden Pierre-Frédéric Ingold - grosse Fortschritte gemacht. Die preiswerten amerikanischen Uhren begannen, die schweizerischen Modelle vom Weltmarkt zu verdrängen. Wie tief die Uhrenkrise war, zeigte sich an der Verarmung im Berner Jura - im Jahr 1876 betrug der Anteil an Fürsorgeabhängigen infolge Arbeitslosigkeit in diesem Gebiet 17,5 Prozent.

Die langjährige Krise schwächte mit der Zeit auch die Juraföderation. Guillaume erinnerte sich: "Die Verschärfung der Uhrenkrise hatte für die Bevölkerung unserer Städte und Dörfer schwerwiegende Folgen. Der Mangel an Arbeit, das Sinken der Löhne, das beginnende Elend spornten nicht dazu an, Mut zu zeigen, sie verbreiteten vielmehr Niedergeschlagenheit und Einschüchterung, sie nagten an den Nerven und schwächten die Willenskraft."

Die "Propaganda der Tat", der kommunistische Anarchismus und die Krise der Juraföderation

Die Gleichzeitigkeit einer unerträglichen sozialen Lage und der Passivität der von Armut betroffenen Bevölkerung beschäftigte viele Aktivisten der Antiautoritären Internationale. Unter dem Eindruck einer oft blutigen Unterdrückung von Äusserungen des Widerstands befürwortete die italienische Sektion der Internationale ab 1876 eine neue Strategie - die "Propaganda der Tat":  Der - wenn nötig gewalttätige - Aufstand gegen die herrschende Ordnung hielt sie für das wirksamste Propagandainstrument, um der Internationale neue Kräfte zuzuführen. Die italienischen Anarchisten strebten zudem ein neues Ziel an: Nicht mehr der Kollektivismus (Kollektivbesitz der Produktionsmittel, Entlöhnung nach dem Prinzip "jedem nach seiner Leistung") sondern der "anarchistische Kommunismus" (Kollektivbesitz der Produktionsmittel, aber Entlöhnung nach dem Prinzip "jedem nach seinen Bedürfnissen") galt ihr als Modell der Zukunft. Schon 1877 versuchten die italienischen Anarchisten, ihre Strategie umzusetzen. Ihr Aufstand in den Dörfern des Benevent wurde aber nach kurzer Zeit niedergeschlagen.   

Die neuen Ideen aus Italien beeinflussten auch den politischen Kurs der Juraföderation. Vor allem der aus Russland in den Jura zurückgekehrte Peter Kropotkin und der ehemalige Kommunard Paul Brousse öffneten sich solchen Ansichten und versuchten, die Basis der Juraföderation dafür zu gewinnen.  Die Gedenkfeier zum sechsten Jahrestag der Pariser Kommune in Bern vom 18. März 1877 sollte das neue Selbstbewusstsein der Juraföderation zum Ausdruck bringen: Um die rote Fahne an der Spitze des Demonstrationszugs zu verteidigen, brachten die Demonstranten Schlagstöcke mit. Als Polizisten die rote Fahne beschlagnahmen wollten, kam es tatsächlich zu Handgreiflichkeiten, bei denen sechs Polizisten und zahlreiche Demonstranten verletzt wurden.

In der Folge zeigte sich, dass der Strasssenkampf in Bern die Juraföderation schwächte. Nur wenige solidarisierten sich mit den Aktivisten, die das Demonstrationsrecht verteidigt hatten. Unter den Mitgliedern der Föderation gab es zwar viel Sympathie unter den jüngeren Uhrenarbeitern, aber viele ältere Uhrenarbeiter wandten sich nach und nach von der Organisation ab. Viele der wichtigsten Aktivisten wurden nach der Kundgebung in Bern vor Gericht gestellt und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Zwar durften manche von ihnen im Gefängnis ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen, aber in den folgenden Jahren litten nicht wenige unter dem Boykott durch bisherige Kunden und unter der Ausgrenzung seitens möglicher Arbeitgeber.

Eine ihrer tragenden Säulen verlor die Juraföderation durch den Rückzug James Guillaumes ins Privatleben. Nach seiner Verurteilung im Zusammenhang mit den Ereignissen in Bern hatte Guillaumes Frau einen Nervenzusammenbruch erlitten, und er selber schätzte seine beruflichen Perspektiven sehr negativ ein. Auch die pessimistische Einschätzung der künftigen politischen Entwicklung trug dazu bei, dass Guillaume im April 1878 aus der Föderation austrat und nach Paris ausreiste. 

Die Radikalisierung und das Ende der Juraföderation

Guillaumes Rückzug bedeutete auch das Ende des "Bulletin de la Fédération Jurassienne".  Fortan galt die von Paul Brousse herausgegebene Zeitschrift "L'Avant-Garde" als Organ der Juraföderation. Wegen ihrer Stellungnahme zugunsten der Attentatsversuche auf den deutschen Kaiser (1878) wurde die Publikation bald vom Bundesrat verboten.

Der Kongress der Juraföderation vom 3. bis 5. August 1878 in Freiburg wurde vor allem von Paul Brousse und Peter Kropotkin geprägt. Die Föderation bekannte sich weiterhin zur kollektiven Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, zur Zerstörung der Staatsmacht und zur Propaganda der Tat. Allerdings formulierte der Kongress zu den beiden letzten Punkten einen Vorbehalt - diese Fragen sollten noch genauer untersucht werden. 1879 wurde Paul Brousse wegen umstürzlerischen Publikation in der Zeitschrift "L'Avant-Garde" zu einer Haftstrafe verurteilt und nach zwei Monaten Gefängnis des Landes verwiesen. Weil der als Graveur boykottierte Schwitzguébel sich nach und nach von der Juraföderation zurückzog und der Aktivist Auguste Spichiger vorübergehend in die USA emigrierte, blieb nur der in Genf lebende Peter Kropotkin übrig, um für die Verbreitung der Ideen der Juraföderation zu wirken. Ab Februar 1879 gab er die Zeitschrift "Le Révolté" heraus.

Vom 9. bis zum 10. Oktober 1880 fand der letzte Kongress der Juraföderation in La Chaux-de-Fonds statt. Er vereinigte noch einmal wichtige Akteure der Antiautoritären Internationale wie Peter Kropotkin, Elisée Reclus, Carlo Cafiero, Auguste Spichiger und Adhémar Schwitzguébel. Der Kongress betonte die Bedeutung einer Verständigung zwischen den Verfechtern des libertären Sozialismus und den Anhängern des Syndikalismus. Nach diesem Kongress kam es zur stillen Auflösung der Juraföderation. Von den Aktivisten, die sich nicht ins Privatleben zurückzogen, blieben manche den anarchistischen Ideen treu. Andere schlossen sich aufstrebenden neuen Strömungen der Arbeiterbewegung an, zum Beispiel den Gewerkschaften oder der sozialdemokratischen Bewegung.


Quellen:

Koller C. (2003). L'industrialisation et l'Etat au pays de l'horlogerie, Courrendlin: CJE
Thomann C. (1947). Le mouvement anarchiste dans les Montagnes neuchâteloises et le Jura bernois, La Chaux-de-Fonds: Imprimerie des Coopératives Réunies
Lörtscher C. (2002) Vereinigt Euch! Adhémar Schwitzguébels Leben für die Arbeiterbewegung, Biel: Eigenverlag
Vuillemier M. (1988). Horlogers de l'Anarchisme, Lausanne: Payot




Autor: Christoph Lörtscher / Quelle: 2012