Archives historiques de la région de Bienne, du Seeland et du Jura bernois
Rousseau über seinen Aufenthalt in Biel
Region / Agglomeration Biel - Stadt Biel - übrige Orte - Ein- und Auswanderung - Persönlichkeiten"Die Uebertriebenheit eines solchen Befehls machte seine Ausführung allerdings unmöglich; denn mitten in dieser von Wasser eingeschlossenen Einsamkeit, wo mir von Einhändigung des Befehls an nur vierundzwanzig Stunden blieben, um mich zur Abreise zu rüsten und Boote und Wagen zum Fortkommen von der Insel und aus dem ganzen Staatsgebiete zu finden, das hätte ich kaum bewerkstelligen können, selbst wenn ich Flügel gehabt hätte. Ich schrieb dies dem Herrn Landvogt zu Nidau in Beantwortung seines Briefes und beeilte mich, aus diesem Lande der Ungerechtigkeit zu scheiden. Auf diese Weise musste ich meinen Lieblingsplan aufgeben, und da ich es in meiner Entmutigung nicht hatte durchsetzen können, dass man über mich verfügte, so entschloss ich mich auf die Einladung Mylord Marschalls hin zur Reise nach Berlin, während ich Therese den Winter über mit meinen Sachen und Büchern auf der Insel Saint-Pierre liess und meine Papiere den Händen Du Peyrous anvertraute. Ich betrieb alles so eilig, dass ich schon am folgenden Morgen von der Insel abreiste und noch vor Mittag in Biel anlangte. Wenig hätte gefehlt, so hätte meine Reise durch einen Zwischenfall, den ich nicht übergehen darf, schon hier ihr Ende erreicht.
Sobald sich das Gerücht verbreitete, dass ich den Befehl erhalten hatte, mein Asyl zu verlassen, empfing ich einen Strom von Besuchen aus der Nachbarschaft und namentlich von Bernern, die mit der verabscheuungswürdigsten Falschheit kamen, um mir den Hof zu machen, mich zu besänftigen und mir zu beteuern, man hätte sich den Augenblick der Ferien und der Unvollständigkeit des Senats zu Nutze gemacht, um diesen Befehl durchzusetzen und mir zuzustellen, über den nach ihrer Behauptung die »Zweihundert« entrüstet wären. Unter dieser Schar von Tröstern erschienen auch einige aus der Stadt Biel, einer kleinen, rings von Berner Gebiet umgebenen Freistadt, und unter andern ein junger Mann, Namens Wildermeth, dessen Familie den höchsten Rang einnahm und den Haupteinfluss in dieser kleinen Stadt besass. Wildermeth beschwor mich lebhaft im Namen seiner Mitbürger, mein Asyl unter ihnen zu nehmen, indem er mir die Versicherung gab, dass sie mich eifrig aufzunehmen wünschten, dass sie es sich zur Ehre anrechnen und eine Pflicht daraus machen würden, mich in ihrer Mitte die Verfolgungen vergessen zu lassen, die ich erlitten; dass ich bei ihnen keinen Einfluss der Berner zu befürchten hätte, dass Biel eine freie Stadt wäre, die sich von niemandem Gesetze vorschreiben liesse, und dass alle Bürger einstimmig entschlossen wären, auf kein gegen mich gerichtetes Gesuch zu hören.
Als Wildermeth sah, dass er mich nicht unschlüssig machte, liess er sich von mehreren andren Personen unterstützen, sowohl aus Biel und Umgegend, wie auch aus Bern selbst und unter andern von dem nämlichen Kirchberger, der mich, wie bereits erwähnt, nach meinem Rückzuge in die Schweiz aufgesucht, und dem ich um seiner Talente und Grundsätze willen meine Teilnahme zugewandt hatte. Allein unerwarteter und deshalb mehr in das Gewicht fallend waren die freundlichen Aufforderungen des Herrn Barthès, eines französischen Gesandtschafts-Secretärs, der mich mit Wildermeth besuchte, mir dringend zuredete, seiner Einladung nachzukommen, und mich durch den lebhaften und zärtlichen Anteil, den er an mir zu nehmen schien, in Erstaunen setzte. Ich kannte Herrn Barthès gar nicht; ich sah ihn jedoch in seine Worte die Wärme und den Eifer der Freundschaft legen und nahm wahr, dass es ihm wirklich am Herzen lag, mich zu der Uebersiedlung nach Biel zu überreden. Er sprach sich gegen mich in der belobigendsten Weise über diese Stadt und ihre Bewohner aus, mit denen er sich so innig verbunden zeigte, dass er sie in meiner Gegenwart mehrmals seine Patrone und Väter nannte.
Dieser Schritt des Herrn Barthès machte mich in allen meinen bisherigen Vermutungen irre. Ich hatte stets Herrn von Choiseul als den verborgenen Urheber aller Verfolgungen, die ich in der Schweiz erduldet, in Verdacht gehabt. Das Benehmen des französischen Residenten in Genf und des Gesandten in Solothurn bestärkten diesen Verdacht nur allzu sehr; ich bemerkte Frankreich im Geheimen auf alles Einfluss ausüben, was mir in Bern, in Genf, in Neufchâtel widerfuhr, und ich glaubte in Frankreich keinen andren mächtigen Feind zu besitzen als den Herzog von Choiseul allein. Was konnte ich demnach von dem Besuche des Herrn Barthès und von dem zärtlichen Anteil denken, den er an meinem Los zu nehmen schien? Mein Unglück hatte diese meinem Herzen angeborene Vertrauensseligkeit noch nicht zerstört, und die Erfahrung mich noch nicht gelehrt, unter den Liebkosungen überall Fallstricke zu sehen. Voll Erstaunen suchte ich nach dem Grunde dieses Wohlwollens des Herrn Barthès; ich war nicht töricht genug zu glauben, dass er diesen Schritt aus eigenem Antrieb täte; ich gewahrte darin eine Offenkundigkeit und sogar eine Absichtlichkeit, die eine geheime Absicht verriet; und überdies hatte ich noch nie bei diesen untergeordneten Agenten jene edelmütige Unerschrockenheit gefunden, die mir in einer ähnlichen Stellung oft mein Herz geschwellt hatte.
Bei Herrn von Luxembourg hatte ich einst den Chevalier von Beauteville ein wenig kennen gelernt; er hatte mir einiges Wohlwollen bewiesen; seit seiner Gesandtschaft hatte er mir auch noch Zeichen des Andenkens gegeben und mich sogar einladen lassen, ihn in Solothurn zu besuchen. Diese Einladung hatte mich, ohne dass ich ihr Folge leistete, doch gerührt, da ich von hohen Beamten eine so höfliche Behandlung nicht gewohnt war. Ich nahm deshalb an, dass Herr von Beauteville, wenn auch gezwungen, die ihm in Bezug auf die Genfer Angelegenheiten erteilten Aufträge auszuführen, mich doch meines Unglücks halben bedauerte und mir durch seine persönliche Bemühung diese Zuflucht in Biel verschafft hätte, um dort unter seinem Schutze ruhig leben zu können. Ich war für diese Aufmerksamkeit dankbar, wenn ich sie auch nicht zu benutzen gedachte, und zur Reise nach Berlin fest entschlossen, sehnte ich mich leidenschaftlich nach dem Augenblicke, wo ich mit Mylord Marschall wiedervereinigt sein sollte, überzeugt, dass ich nur an seiner Seite eine wahre Ruhe und ein dauerhaftes Glück finden würde.
Bei meiner Abreise von der Insel begleitete mich Kirchberger bis nach Biel. Dort fand ich Wildermeth und einige andere Bieler, die mich beim Aussteigen aus dem Boote erwarteten. Wir speisten im Wirtshause alle zusammen, und unmittelbar nach meiner Ankunft war es meine erste Sorge, einen Wagen zu bestellen, da ich am nächsten Morgen abreisen wollte. Während des Essens drangen die Herren von neuem mit Bitten in mich, um mich in ihrer Mitte zurückzuhalten, und zwar mit so grosser Wärme und so rührenden Verheissungen, dass sich mein Herz, welches Zärtlichkeiten nie zu widerstehen vermochte, von den ihrigen trotz aller meiner Beschlüsse bewegen liess. Sobald sie mich erschüttert sahen, verdoppelten sie ihre Bemühungen mit solchem Erfolge, dass ich mich endlich besiegen liess und einwilligte, in Biel zu bleiben, wenigstens bis zum nächsten Frühling. Sofort beeilte sich Wildermeth, mir eine Wohnung zu verschaffen, und rühmte mir als einen ganz besonders glücklichen Fund ein nach dem Hofe hinaus gelegenes hässliches Kämmerlein im dritten Stocke an, von dem aus ich mein Auge an dem Gerüste stinkender Häute eines Weissgerbers weiden konnte. Mein Wirt war ein kleiner Mann mit gemeinem Gesichte und ein vollkommener Schurke, der mir am folgenden Tage als Wüstling, Spieler und als eine in dem ganzen Stadtviertel übel berüchtigte Persönlichkeit geschildert wurde. Er hatte weder Weib noch Kinder noch Dienstleute, und in mein einsames Zimmer kläglich eingesperrt, war ich in der lachendsten Landschaft von der Welt so eingepfercht, daß ich in wenigen Tagen hätte vor Schwermut sterben können. Was mich am meisten schmerzte, war, daß ich trotz allem, was man mir von dem freundlichen Entgegenkommen der Einwohner gesagt hatte, beim Durchschreiten der Strassen nichts von Höflichkeit gegen mich in ihrem Benehmen, von Zuvorkommenheit in ihren Blicken gewahrte. Trotzdem war ich fest entschlossen, da zu bleiben, als ich bereits den folgenden Tag hörte, sah und begriff, dass in der Stadt eine furchtbare Aufregung gegen mich herrschte. Mehre dienstfertige Leute kamen ausserordentlich höflich, um mir mitzuteilen, schon am andern Tage würde man mir einen in härtester Form erlassenen Befehl zufertigen, auf der Stelle den Staat, das heisst die Stadt, zu verlassen. Ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Alle, die mich zurückgehalten, hatten sich zerstreut. Wildermeth war verschwunden, von Barthès hörte ich nicht mehr reden, und es schien nicht, dass mir seine Empfehlung bei den Patronen und Vätern, die er sich in meiner Gegenwart beigelegt hatte, sehr vorteilhaft gewesen wäre. Ein Herr von Vautravers, ein Berner, der ein niedliches Haus vor der Stadt besass, bot mir jedoch ein Asyl darin an, in der Hoffnung, wie er sagte, dass ich mich darin der Steinigung entziehen könnte. Diese Aussicht schien mir nicht verführerisch genug, um mich in Versuchung zu bringen, meinen Aufenthalt bei diesem gastfreundlichen Volke zu verlängern.
Da ich dadurch jedoch drei Tage verloren, so hatte ich die mir von den Bernern zur Räumung ihrer Staaten festgesetzten vierundzwanzig Stunden bedeutend überschritten, und da ich ihre Härte kannte, konnte ich mich nicht einiger Sorge über die Art entschlagen, wie sie mich hindurchlassen würden, als mich der Landvogt von Nidau rechtzeitig aus meiner Verlegenheit riss. Da er die Gewaltmassregel ihrer Excellenzen laut gemissbilligt hatte, glaubte er mir in seinem Edelmute ein öffentliches Zeugnis schuldig zu sein, dass er daran keinen Anteil hätte, und nahm keinen Anstand, seinen Amtsbezirk zu verlassen, um mir in Biel einen Besuch abzustatten. Er kam den Tag vor meiner Abreise, und zwar nicht etwa incognito, sondern seinen Secretär neben sich in der Kutsche und in vollem Staate und brachte mir einen von ihm amtlich unterschriebenen Pass, um das Berner Gebiet, wo ich wollte, und ohne Furcht einer Belästigung durchreisen zu können. Der Besuch rührte mich mehr als der Pass. Ich würde ihm kaum weniger dankbar gewesen sein, wenn dieser Besuch einem andern als mir gegolten hätte. Ich kenne nichts, was einen so mächtigen Eindruck auf mein Herz ausübt, als eine Handlung des Heldenmuts im rechten Augenblicke zu Gunsten eines Schwachen getan, der ungerechterweise unterdrückt wird.
Nachdem ich mir mit Mühe einen Wagen verschafft hatte, reiste ich endlich am folgenden Morgen aus diesem mörderischen Lande ab, noch vor der Ankunft der Abgeordneten, die man mir zu Ehren an mich absenden wollte, ja noch ehe ich Therese wiedersehen konnte, die ich in dem Glauben, in Biel zu bleiben, mir zu folgen aufgefordert hatte, und der ich kaum in einigen flüchtigen Worten, in denen ich ihr mein neues Unglück anzeigte, Gegenbefehl erteilen konnte. Aus meinem dritten Teile wird man, wenn ich je die Kraft ihn zu schreiben habe, ersehen, wie ich in dem Wahne nach Berlin zu reisen, in Wahrheit nach England reiste, und wie die beiden Damen, die über mich verfügen wollten, nachdem sie mich aus der Schweiz, wo ich mich nicht genug in ihrer Gewalt befand, durch ihre Ränke vertrieben hatten, mich schliesslich doch noch an ihren Freund auslieferten."
Auteur: Jean-Jacques Rousseau / Source: Rousseau's Bekenntnisse, zweiter Theil, Philipp Reclam jun. 1882, Übersetzung durch H. Denhardt 1769-1770