Historisches Archiv der Region Biel, Seeland und Berner Jura

Die «Spanische Grippe» wütet in Biel

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Heisse Tage in Biel: Teuerung, Lebensmittelrationierung, Wohnungsnot und Kriegsmüdigkeit erhitzten im Frühsommer 1918 das soziale Klima. Am 28. Juni traten die Stadtarbeiter in den Streik, am 8. Juli eskalierte eine Hungerdemonstration vor dem Rathaus in eine Strassenschlacht - alles Vorzeichen des Landesstreiks vom November.

Niemand ahnte in jenen Tagen, dass gerade die grösste demographische Katastrophe des Jahrhunderts über die Schweiz hereinbrach, als sich die Berichte über Grippekranke häuften. Schliesslich starben damals in durchschnittlichen Jahren nicht weniger als 750 Menschen im Land an der Grippe und ihren Folgen, ohne dass es zu einer Epidemie gekommen wäre. Unruhe kam erst auf, als die Meldungen über Grippetote in der Armee nicht abrissen.

Auch in der Bevölkerung schlug die Grippe ab Juli wuchtig zu; bald füllten sich die Zeitungen mit Todesanzeigen. Weil die Seuche angeblich von der Iberischen Halbinsel kam, wurde sie «Spanische Grippe» genannt. Am 20. Juli wurden in Biel die Kinos und Kirchen geschlossen und alle Versammlungen verboten - Tanzanlässe, Chorübungen und Konzerte ebenso wie Leichenfeiern. In Kasernen und Schulen wurden Notspitäler eingerichtet, doch die Ärzte waren hilflos: der Erreger der Grippe, ein Virus, sollte erst 1933 entdeckt werden. So starben bis Ende August in der Stadt 97 Menschen. Ende September meldete die Presse bereits über 2000 Kranke und 128 Tote in Biel und Umgebung. Nach einer ersten Beruhigung schlug die Grippe wieder härter zu. Erst zum Jahresende klang die Epidemie ab. Am 4. Januar wurden die Sekundar- und Primarschulen wieder geöffnet und am 11. Januar die Notspitäler aufgehoben.

Die Menschheit war von einem neuen Stamm des Grippevirus überrascht worden. Er kostete im Kanton Bern 4658 Menschen das Leben, landesweit zwischen Juli 1918 und Juni 1919 rund 25 000 Menschen. Weltweit forderte er 20 bis 25 Millionen Opfer - das sind mehr, als durch den Ersten Weltkrieg umkamen. In der Schweiz erfasste die Seuche jeden zweiten Bewohner; 0,65% der Bevölkerung starben. Wie Thun und Burgdorf, gehörte Biel zu den kleineren Städten im Kanton, die - neben den Gemeinden Sonceboz und Tavannes - am schwersten heimgesucht wurden. Wieso die Epidemie bevorzugt Männer zwischen 20 und 40 Jahren tötete, ist bis heute unklar. In der Stadt Bern war die Sterblichkeit in den Arbeiterquartieren fünfmal höher als in den Wohlstandsvierteln; in Biel hat sich die Grippe ihre Opfer vermutlich ähnlich «undemokratisch» ausgesucht - dahinter könnte möglicherweise die Unterernährung stehen, welche zur Kriegszeit in den Arbeiterhaushalten verbreitet war.



Autor: Daniel Di Falco / Quelle: 1900