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Er lieferte Fleisch aus und landete mitten in der Revolution: Interview mit einem Bieler Ungarnfllüchtling

Im Oktober 1956 ist er aus Ungarn in die Schweiz geflüchtet. Biel wurde seine neue Heimat. Im Interview mit mémreg – das Regionale Gedächtnis erinnert er sich; aus persönlichen Gründen möchte er anonym bleiben.

Im Oktober 1956 brach in Budapest ein Aufstand gegen die stalinistische Regierung aus, die sich nur mit Hilfe sowjetischer Truppen halten konnte. Wie war Ihre Lebenssituation damals?
 
Ich arbeitete in einer Fleischfabrik. Schweine und Kühe wurden hier geschlachtet. Das ursprünglich englische Unternehmen war verstaatlicht worden und produzierte vor allem Schinken und Fleischkonserven. In der Fabrik habe ich den Verkauf und als Buchhalter das Warenlager bewirtschaftet. Wir lebten gut, wir assen gut.
 
Wie haben Sie die Aufstände erlebt?
 
Wir hörten vom Ausbruch der Revolution in Budapest. Der Aufstand begann beim Radio- und Fernsehzentrum, ausgerechnet nahe beim Zielort unserer Fleischtransporte. Jenö, der Direktor, suchte Freiwillige für die Fleischtransporte in die Hauptstadt, weil die Fahrer und Fahrbegleiter nicht in die Gefahrenzone wollten. Ich war jung und ledig, und so stellte ich mich zur Verfügung. Mit dreieinhalb Tonnen Fleisch fuhren wir los. 60 bis 70 Kilometer vor Budapest trafen wir auf die ersten Sowjetpanzer, die uns auf Waffen untersuchten. In der Hauptstadt trafen wir in Buda viele Sowjetsoldaten an, vor allem aus dem asiatischen Teil der Sowjetunion. Viele Sowjetsoldaten wussten nicht, wo sie waren und weshalb sie hier waren. Von den schon zuvor stationierten Truppen sind zwei Panzer zu den Aufständischen übergelaufen.
 
Haben Sie die Gefechte miterlebt?
 
An der leergefegten Donaubrücke wurden wir erstmals mit dem bewaffneten Kampf konfrontiert. Ich sah, wie ein Panzer (T 34) der Sowjettruppen durch einen Molotowcocktail in die Luft gejagt wurde, aber ich sah auch, wie sowjetischer Beschuss riesige Löcher in die Hausfassaden riss.
 
Wie reagierten Sie?
 
Den Zielort unseres Transports konnten wir nicht erreichen. Da unser Wagen keine Kühlung hatte, befürchteten wir, dass das Fleisch bald verderben könnte. Kurz darauf sah ich, wie die Leute in einer Metzgerei vergeblich auf Fleisch warteten. Die Versorgung war zum Teil zusammengebrochen. So übergab ich unsere Fracht einem Metzger, mit der Auflage, das Fleisch zu verschenken, aber pro Person nicht mehr als 500 Gramm abzugeben, so dass ein möglichst grosser Personenkreis davon profitieren konnte. Ich liess mir vom Metzger eine Quittung mit diesen Bestimmungen unterschreiben, um sie später unserem Direktor zukommen zu lassen. Bald darauf wurde ich von Aufständischen angefragt, ob ich mich dem Kampf anschliesse, aber ich wollte das nicht.
 
Wie ging es weiter, und wann fassten sie den Beschluss zur Flucht?
 
Ich blieb etwa eine Woche in Budapest, eine Rückkehr war schwierig. Als es nach ein paar Tagen eine gewisse Normalisierung gab, sah ich, wie viele Leute gratis Gemüse in die Stadt brachten, um die Revolutionäre zu unterstützen. Auf einem ihrer Lastwagen konnte ich nach Hause zurückkehren – ich habe grosses Glück gehabt. Als der Lastwagen vor dem Haus meiner Eltern hielt, hatten diese aber Angst, die Geheimpolizei sei gekommen – die erschien oft zu Unzeiten mit einem Lastwagen und nahm Leute mit, die später nie mehr gesehen wurden. Ich blieb drei bis vier Tage zuhause. Doch auch ich hatte Angst: Meine Fleischverteilung konnte hart bestraft werden. So meldete ich den Sachverhalt dem Direkor, dachte aber an Flucht. Da kam Imre Kuthy zu mir, und zwar am 11. 11. 1956. Er sagte, der letzte Tag für eine Flucht sei gekommen, da die Sowjettruppen zunehmend die Grenze abriegelten. Ich musste mich sehr schnell entscheiden, und ich beschloss, meine Heimat zu verlassen.
 
Wie verlief ihre Flucht?
 
Kuthy brachte mich zu einem Bauernhof, der sechs Kilometer von der Grenze entfernt lag. Der Bauer hat uns dann zur Grenze gebracht. Mit einem Balken und einer gespannten Schnur konnten wir den Grenzkanal (Schwarzer Kanal) überqueren. Wir hörten von weitem Schüsse, aber bei uns war es ruhig. Mit uns flüchteten auch Aufständische, die den Kampf aufgegeben hatten. In Österreich wurden wir zuerst in Schulen aufgenommen, die mit Stroh und Militärdecken versehen waren. Zuerst waren wir in Oberpullendorf stationiert, dann in der Kaserne Wöllersdorf, 60 Kilometer von Wien.
 
Wie kamen Sie in die Schweiz?
 
Mein Ziel war von Anfang an die Schweiz. Erstens hatte ich genug vom Krieg, und die Schweiz war neutral. Zweitens erinnerte ich mich an die Erzählungen meiner Grosstante, deren Mann Subdirektor der ungarischen Eisenbahn war. Die Grosstante hatte viel von ihren Reisen ins Berner Oberland erzählt und erwähnt, dass das Klima im Unterland erträglich sei. Weil das Schweizer Konsulat schon vor meiner Ankunft in der Kaserne da gewesen war, wartete ich weitere zwei Wochen, bis ein Vertreter der Schweiz wieder einen Besuch im Lager machte. Ich konnte dann tatsächlich in die Schweiz einreisen, zuerst kam ich nach Herisau, wo ich einen Monat in der Kaserne verblieb. Sehr bald wurden wir angefragt, ob wir eine Arbeit annehmen wollten. Ich meldete mich für die Arbeit auf einer Baustelle, wo wir mit dem Pickel den gefrorenen Boden aufhacken mussten, um Platz für das Fundament einer Garage zu machen. Bald waren meine Hände voller Schwielen. Viele Ungarnflüchtlinge wurden von dort an die Bauern vermittelt, aber 68 Personen konnten nicht vermittelt werden. Dazu gehörte ich.
 
Wann kamen Sie nach Biel?
 
Am Freitag, 18. Januar 1957, kam ich nach Magglingen bei Biel. Wir kamen in das Gebäude für Ringer und Boxer. Das Essen konnten wir in der Kantine im Hauptgebäude einnehmen.
Am Montag kam ein Detektiv der Kantonspolizei, der mich zum Arbeitsamt begleitete.
Der Leiter des Arbeitsamtes, Herr Schrämli, eine kleiner Mann, sprach ein wenig Ungarisch. Er fragte nach meiner Ausbildung (Statistik, Buchhaltung, Plan). So erhielt ich eine Stelle bei der RMB. An der Theodor-Kocher-Strasse erhielt ich eine blaue Berufsschürze.
Von einem Bieler Hilfskomitee erhielten wir gebrauchte Kleider – in der Sekundarschule Rittermatte konnten wir uns melden und gebrauchte Kleider auswählen. Ich erhielt Schuhe, ein graues Kleid und zwei Hosen.
 
Wie ging es beruflich weiter?
 
Ich wurde Lagerchef. Das produzierte Material (Kugellager) wurde bei uns etikettiert und gelagert. Das kleinste Kugellager hatte einen Durchmesser von 1,1 mm (3 Kügelchen). (Nicht nur Omega, auch RMB war bei der Mondlandung vertreten!). Ich war etwa 8 Jahre Lagerchef bei der RMB. Als Hilfskraft war Frau Brunner Alice beschäftigt. Erste Gratifikation: 150 Franken. Als Erinnerung daran kaufte ich eine goldene Uhr der Marke Dubois. Die läuft immer noch ganz genau.
Später wurde ich in der RMB kurz auf die Produkt-Kontrolle versetzt, hatte aber zu schwache Augen. Ich wollte kündigen, darauf wurde ich in die Verpackungsabteilung versetzt.
 
Hatten Sie in Biel Kontakt mit anderen Ungarn?
 
Da gab es einen Musiker, der im Hotel Elite arbeitete, Herr Lakatos. Er heiratete eine Schweizerin. Da gab’s Janos Csorba, einen Rumback Joszef.
Die Ungarn trafen sich in einem Lokal der Drahtwerke an der Mattenstrasse. Wir waren etwa 18 bis 20 Personen. Viele waren aus Budapest. Ich beteiligte mich aber nicht so intensiv an diesen Versammlungen und zog es vor, meinen weiteren Weg allein zu gehen. Dem Schweizer Volk gegenüber empfinde ich Dankbarkeit, weil es mir und meiner Familie ermöglicht hat, eine neue Heimat zu bekommen.