Historisches Archiv der Region Biel, Seeland und Berner Jura

Ein begehrenswertes Stück Freiheit

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Wie manches Mal war Jean-Claude, der junge Kommissionär eines Uhrenateliers, nicht schon am Schaufenster des Fahrradgeschäftes vorbeigeschlendert, wie viele Male nicht stehen geblieben, um sich das dort ausgestellte Fahrrad anzuschauen oder, besser gesagt, es zu bestaunen. Ein Velo mit doppelter Übersetzung, einer Zweigangschaltung, um genau zu sein, einem Freilaufmechanismus mit Rücktrittbremse, Kettenspanner und Katzenauge. Ein Traum, ein Traum von Freiheit, wie ihn sich andere gönnten, die sonntags mit ihren Rädern weite Touren unternahmen, um den Bielersee herum oder nach Bern, gar nach Thun. Wenn man da mittun könnte! Weg von der Stadt, mit einigen gleich gesinnten Kollegen nach Neuenburg, nach Solothurn radeln, in den Jura hinauf oder wohin es gerade sein mochte. Von keiner Eisenbahn mehr abhängig sein, aufbrechen und zurückkehren, wann man wollte. Weg von den Eltern, die einen leider nur zu sehr noch unter Beobachtung hielten, als ob man noch ein Schulbub sei. Jean-Claude hatte ein paar ältere Kollegen, die fuhren am frühen Sonntagmorgen über die Juraberge und durch das Laufental bis nach Basel und kehrten erst spätabends zurück. Wenn man da mittun, etwas mehr sehen dürfte als bloss immer nur die nähere Umgebung, die gleichen langweiligen Dörfer! Gewiss, die Grossmutter war noch nie weiter als bis Grenchen und Neuenstadt und nur einmal nach Bern gekommen und hatte immer behauptet, sie begehre nicht, darüber hinaus zu fahren. Das war eben die alte Generation!

Nein, ein neues Fahrrad, wie das begehrte im Schaufenster, gab es zwar nicht. Mit dem stolzen Preis von 300 Franken war es viel zu teuer, sogar der Vater hätte es sich nicht leisten können. Ein alter Bekannter des Vaters hatte jedoch ein Velo abzugeben, das sich noch in gutem Zustand befand. Dennoch, 80 Franken sollte es gleichwohl kosten. Nachdem man das Rad besichtigt hatte, folgten einige Wochen lang, mittags wie abends, endlose Diskussionen am Familientisch um diesen Kauf. Der Vater war nach sechs Wochen endlich so weit weich geklopft, dass er einwilligte, 50 Franken an den Kauf beizusteuern, den Rest musste der Filius allerdings selber aufbringen. Der Verkäufer liess sich dann ebenfalls erweichen; 55 Franken Anzahlung und dann monatlich noch je einen Fünfliber, bis der junge Kommissionär das Velo mit berechtigtem Stolz sein Eigen nennen durfte. Zwar entsprach es schon nicht ganz dem im Schaufenster, weder hatte es eine Übersetzung noch andere Finessen. Hingegen war es schwer, ziemlich sogar, wie es eben ein gänzlich aus Stahlrohren konstruiertes Fahrrad ist. Damit würde das Überqueren von Jurapässen zur ziemlich mühseligen Angelegenheit, aber was wog das eigentlich schon gegen die grosse ersehnte Freiheit, die das Gefährt versprach? War nicht der ältere Bruder zu Ostern mit dem Velo in zwei Tagen bis nach Genf gefahren und zurück? Er hatte von Genf erzählt, den Prachtstrassen, dem See, den vielen Fremden dort. Wenn man das alles selber sehen könnte! Doch bald würde es auch für ihn möglich sein. Bald würde er die Sonntage nicht mehr mit den Eltern und ihren langweiligen Spaziergängen zum Strandboden verbringen müssen. Noch zweimal fünf Franken; dann winkte die ersehnte Freiheit endlich ihm, dem jungen Kommissionär Jean-Claude!



Autor: Urs Karpf / Quelle: 1920